Aber sind das nicht nur Klischees?
Eine Erfahrung über Widerstand, Reflexion und Bereitschaft im interkulturellen Lernen

In einem meiner letzten Gruppentrainings standen wir dicht gedrängt um einen großen Bildschirm und betrachteten eine lebendige Visualisierung kultureller Präferenzen. Lachen und leises Staunen füllten den Raum, als die Teilnehmenden feststellten, wie unterschiedlich – oder überraschend ähnlich – ihre eigenen Werte im Vergleich zu den Mustern eines Landes waren, mit dem sie bald beruflich zu tun haben würden. Das verwendete Tool diente dabei nicht der Bewertung, sondern der Selbstreflexion:
Wie treffe ich Entscheidungen? Wie gehe ich mit Zeit um? Welche Rolle spielt Hierarchie in meinem Leben?

Die Visualisierung zeigte individuelle Präferenzen entlang mehrerer kultureller Dimensionen – etwa Kommunikationsstil, Zeitorientierung oder Umgang mit Hierarchie und Macht – und verglich sie mit einem prototypischen kulturellen Profil eines Landes. Es war ein Türöffner für sofortige Erkenntnisse und bedeutungsvolle Diskussionen.

Dann entstand eine Pause.

Eine Teilnehmerin verschränkte die Arme, beugte sich leicht vor und sagte:

„Das gefällt mir gar nicht. Fördert das nicht nur kulturelle Stereotype? Menschen sind mehr als ihre Kultur.“

Der Raum wurde still. Einige nickten, andere wirkten verunsichert. Wir hielten inne – und begannen eines der wertvollsten Gespräche des gesamten Tages.

Auf der einen Seite stand die Sorge, dass kulturelle Typologien Individuen auf bestimmte kulturelle Zugehörigkeit reduzieren und vereinfachen. Auf der anderen Seite die Perspektive, dass ohne strukturierte Reflexion wichtige kulturelle Unterschiede leicht ignoriert werden. In solchen Momenten hilft mir immer wieder ein bewährter theoretischer Rahmen: Milton Bennetts Entwicklungsmodell interkultureller Sensibilität (DMIS) – ein Modell, das erklärt, warum Menschen so unterschiedlich auf kulturelle Unterschiede reagieren.

Von Ethnozentrismus zu Ethnorelativismus

Im Zentrum von Bennetts Modell steht ein Entwicklungskontinuum – von Ethnozentrismus hin zu Ethnorelativismus:

  • Ethnozentrismus bedeutet, die eigene Kultur der einzig gültige oder „normale“ Maßstab ist, um die Welt und andere Kulturen zu beurteilen. Andere Sichtweisen werden durch die Brille der eigenen Normen beurteilt.

  • Ethnorelativismus hingegen erkennt an, dass Kulturen gleichwertig komplex und gültig sind – und dass es keine universellen Wahrheiten gibt.

Während Ethnozentrismus die eigene Kultur als Referenzpunkt nimmt, erkennt Ethnorelativismus an, dass jede Kultur eine gleichermaßen gültige und komplexe Weltsicht darstellt.

Bennett beschreibt sechs Entwicklungsstufen auf diesem Weg:

1. Verleugnung von Unterschieden (ethnozentrisch)

Unterschiede werden nicht wahrgenommen oder als irrelevant angesehen. Aussagen wie:

„Wir sind doch alle einfach Menschen. Kultur ist da nicht entscheidend.“

2. Abwehr von Unterschieden (ethnozentrisch)

Unterschiede werden erkannt – aber als Bedrohung erlebt. Die eigene Kultur gilt als überlegen. Es kann auch zur Umkehrung kommen, bei der eine andere Kultur idealisiert und die eigene abgewertet wird.

„Unsere Art ist einfach besser. Die anderen verstehen nicht, wie es richtig geht.“

3. Verharmlosung / Minimierung von Unterschieden (ethnozentrisch)

Unterschiede werden zwar anerkannt, aber durch Betonung gemeinsamer Werte relativiert.

„Klar, wir handeln unterschiedlich, aber tief drinnen sind wir doch alle gleich.“

4. Akzeptanz von Unterschieden (ethnorelativ)

Es wird anerkannt, dass Kulturen unterschiedliche Werte und Weltbilder haben – und dass diese gültig sind.

„Ich muss nicht zustimmen, aber ich verstehe, dass es für sie Sinn ergibt.“

5. Anpassung an Unterschiede (ethnorelativ)

Die eigene Kommunikation und das Verhalten werden bewusst angepasst, um in anderen Kulturen wirksam zu sein.

„In dieser Kultur zeigt man Respekt eher durch indirektes Feedback – also ändere ich meinen Ton.“

6. Integration von Unterschieden (ethnorelativ)

Man fühlt sich in mehreren kulturellen Kontexten zu Hause. Es besteht die Fähigkeit, mühelos zwischen verschiedenen Perspektiven zu wechseln.

„Ich denke heute in mehreren kulturellen Systemen – das macht mich aus.“

Zurück in den Trainingsraum: Widerstand als Spiegel, nicht als Mauer

Im weiteren Verlauf unserer Diskussion wurde mir klar: Der Widerstand gegen das Tool war nicht rein rational. Er war emotional. Der Satz „Das ist doch Stereotypisierung“ spiegelte nicht nur Kritik, sondern auch ein Unbehagen gegenüber strukturierter Reflexion über kulturelle Unterschiede. Vielleicht war es – wie Bennett es beschreiben würde – Ausdruck von Minimierung oder sogar Leugnung.

Und genau hier liegt der entscheidende Punkt: Solcher Widerstand ist nicht ungewöhnlich. Im Gegenteil – er ist ein Hinweis. Kulturelle Reflexionstools, die selbst mit besten Absichten eingeführt sind, fordern die eigene Lernbereitschaft heraus. Und genau dieses Unbehagen zeigt uns oft mehr als das Tool selbst:
Es zeigt, wo Menschen auf ihrer Entwicklungsreise stehen.

In einem anderen Training weigerte sich ein Projektleiter kategorisch, das Tool zu nutzen. „Gute Kommunikation ist Persönlichkeitssache, nicht Kultur“, sagte er. Klingt humanistisch, oder? Tatsächlich wich er der kulturellen Komplexität aus – und wollte sich nicht mit echten Unterschieden befassen.

Denn: Kulturelle Unterschiede zu erkennen, ist nur der Anfang.
Die eigentliche Herausforderung ist, sie zu managen.

Und genau dort beginnt der innere Widerstand: Denn wer Unterschiede wirklich anerkennt, muss bereit sein, das eigene Verhalten zu hinterfragen – und anzupassen.

An diesem Punkt stelle ich oft Fragen wie:

  1. Welche Elemente meines Kommunikationsstils könnten in anderen Kulturen anders aufgefasst oder fehlinterpretiert werden?
  2. Bin ich bereit, meine Art Entscheidungen zu treffen an kulturelle Erwartungen meines Gegenübers anzupassen?
  3. Welche meiner Führungsgewohnheiten beruhen auf meiner eigenen Kultur – und wo habe ich Spielraum für Flexibilität?
  4. Was kann ich konkret tun, um in einer anderen Kultur glaubwürdig Vertrauen aufzubauen?
  5. Wie kann ich in unserer Zusammenarbeit Raum schaffen für andere Herangehensweisen an Zeit, Konflikte oder Risikobewertungen?
  6. Welches Verhalten von mir könnte ich gezielt verändern, um im interkulturellen Kontext wirkungsvoller zu agieren?
  7. An welchen Stellen führen kulturelle Unterschiede bei uns im Team zu Missverständnissen oder Reibungen?

 

Diese Fragen verlangen Verhaltensänderung – und genau das macht vielen Angst.

Nicht weil sie intellektuell zu komplex wären. Sondern weil sie uns existentiell herausfordern.

Fazit: Vom Wissen zum Handeln

Interkulturelle Kompetenz bedeutet nicht, alles über andere Kulturen zu wissen. Es bedeutet, die eigenen Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen – und bereit zu sein, sie weiterzuentwickeln.

Ja, Reflexion über kulturelle Unterschiede kann Widerstand auslösen. Und das ist kein Zeichen von Schwäche – sondern oft der erste Schritt in einem echten Lernprozess. Denn wer Unterschiede wirklich sieht, merkt schnell:
Ich muss mich selbst bewegen, wenn ich Brücken bauen will.

In einer global vernetzten Welt reicht es nicht mehr, offen wirken zu wollen. Es geht darum, sich aktiv mit Vielfalt auseinanderzusetzen – mit Neugier, Respekt und der Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen.

Interkulturelle Kompetenz ist kein theoretisches Wissen und keine Checkliste.
Es ist eine innere Haltung.
Eine Entscheidung.
Ein Weg.

Die Führungskräfte der Zukunft sind nicht die, die auf Einheit pochen – sondern die, die mit Vielfalt souverän und empathisch umgehen können.

Und wenn du das nächste Mal spürst, wie innerer Widerstand aufkommt – bei dir oder bei anderen – sieh ihn nicht als Hindernis. Sondern als Einladung.
Denn genau dort beginnt Entwicklung.
Vom Wissen zum Handeln. Vom Verstehen zum Verbinden.