Syrien verstehen – Umgang mit Flüchtlingen aus Syrien: Marketing-Spielereien?!

In einem Beitrag über Syrien und die virtuelle Welt habe ich auf einen unbewussten Denkfehler hingewiesen, den einige Akteure in der Flüchtlingsarbeit unabsichtlich begehen. Um geflüchtete Menschen aus Syrien besser zu verstehen und die Gründe für ihre erlebten Herausforderungen zu analysieren, ist es wichtig, Bücher über Syrien zu lesen und sich damit auseinanderzusetzen. Ein besonders empfehlenswertes Werk ist Gerhard Schweizers Buch “Syrien verstehen“, das interessante Beiträge zu aktuellen und historischen Themen wie den Wurzeln des anti-westlichen Nationalismus und den Frauenrechten im Koran, Hadith und Scharia enthält. Neben diesem Buch gibt es weitere spezielle Werke über Syrien, die das Land, die gesamte Region und die verschiedenen Religionen analysieren und für die Leserschaft verständlich aufbereiten. Sehr bewegend und empfehlenswert sind auch die persönlichen Erfahrungen von Kirstin Helberg in ihrem Buch “Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns: Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land“.

In Integrationsabenden und Workshops mit syrischen Geflüchteten sowie ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen werden Inhalte oder Ausschnitte dieser Bücher mit den Teilnehmenden diskutiert. Das Lernziel besteht darin, das Fremdbild zu reflektieren: Was denken Deutsche oder Menschen in den deutschsprachigen Medien über Syrien, die Syrer, ihre Religion, Geschichte und Traditionen, und woher stammt dieses Wissen? Es interessiert auch die Meinungen und Erfahrungen der syrischen Geflüchteten in Deutschland, um darauf in nachfolgenden Veranstaltungen Bezug nehmen zu können.

Beispielsweise habe ich in Workshops in Wiesbaden, Koblenz und Bremen zwischen April 2016 und August 2017 folgende drei Aussagen von mehreren syrischen Teilnehmenden gehört: Im Herbst 2015 kamen 60% der Befragten zu dem Schluss:

1. “Warum reden sie nicht mit uns, statt ein Buch über uns zu lesen?”
2. “Es gibt viele kluge Leute aus Syrien, die eine authentische Analyse über das Land geben können, anders als die Fremdbeschreibung.”
3. “Die Deutschen analysieren uns aus ihrer Sicht und mit ihren Mitteln, entwickeln Lösungen für uns aus ihrer Perspektive. Wir sind das Objekt, mit dem man macht, was man will!”

In meiner eigenen Befragung mit 56 Teilnehmenden aus Syrien in den Jahren 2016-2017 wurden diese Aussagen gemacht.

Das Angebot an Seminaren zum Thema Umgang mit Flüchtlingen und interkulturelle Kompetenz für ehrenamtliche Helferinnen und Helfer war zwischen 2016 und 2019 äußerst vielfältig. Das Ziel der Anbietenden war es, kulturbedingte Herausforderungen zu antizipieren und passende Lösungen zu finden. Jedoch machen anekdotenhafte Veranstaltungen, wie “Syrer verstehen: Kommunikation mit jungen Leuten aus dem Morgenland” oder “Syrien verstehen für Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe”, wenig Sinn, wenn sie sich NUR auf Syrien vor dem Krieg beziehen. Diese Vorgehensweise ist teilweise “kulturalistisch”, da sie Kultur als isoliertes Element betrachtet. Anders ausgedrückt: Sie überbetont die kulturelle Zugehörigkeit und ignoriert andere Erklärungsfaktoren! Alle Teilnehmenden meiner Befragung bestätigen jedoch, dass Syrien und die Syrer vor dem Krieg nichts mit Syrien und den Syrerinnen nach dem Krieg zu tun haben. Eine Teilnehmende bringt es auf den Punkt:

Alles, was wir früher gemacht haben, ist jetzt weg und für immer verloren: Das Vertrauen in Freunde, Nachbarn, Bekannte ist verschwunden. Die Unbekümmertheit und Gelassenheit sind verloren. Wir haben alles verloren, und ich möchte schon gestern ein normales Leben wiederhaben – ein wenig Normalität, egal wo, egal in welcher Kultur, egal wer die Nachbarn sind, egal, was sie sprechen. Ich fange von Null an, und alles, was mir vertraut war, ist für immer weg. Ich fange von Null an, und ich bin den Menschen in Deutschland, die uns aufgenommen haben, sehr, sehr dankbar. Ich hoffe, irgendwann kann ich das zurückgeben. Es wäre gut, wenn sich die Menschen jetzt mit uns beschäftigen, mit uns reden und sich weniger dafür interessieren, wie wir waren oder woher wir kommen, denn wir sind jetzt ganz anders geworden!

Es gibt wenig empirisches interkulturelles Wissen oder solide Erkenntnisse aus der kulturvergleichenden Forschung über Syrien, die unsere Annahmen begründen können. Wenn Theorien und Modelle des interkulturellen Managements den arabischen Raum, wie beispielsweise die Globe Study (Global Leadership and Organizational Behavior Effectiveness), untersuchen, finden sich Datenerhebungen aus Ägypten, Marokko, Jordanien oder Saudi-Arabien. Auch in der wichtigsten Umfrage über menschliche Werte, dem World Value Survey, gibt es keine Angaben über Syrien. Andere Studien, wie “Facework in Syria and the United States: A Cross-Cultural Comparison“, beziehen sich auf die Kulturdimensionen von Gert Hofstede. Die Scores von Syrien in dieser Studie sind wie folgt – kleine Zahlen deuten auf eine niedrige Ausprägung, große Zahlen auf eine hohe Ausprägung:

  • Machtdistanz: 80 (Akzeptanz von Ungleichverteilung von Macht und Hierarchie > mögliche Folgen: Orientierung an der Autorität – “Sie wollen immer mit dem Chef sprechen”)
  • Individualismus und Kollektivismus: 35 (Fokus auf die Gruppe und weniger auf das Individuum > mögliche Folgen: Das Individuum erwartet bzw. rechnet mit Unterstützung von der Gruppe – “Obwohl die Einladung nur für den Leistungsempfänger alleine war, kommen mehrere Leute zum Gespräch”)
  • Maskulinität versus Femininität: 52 (Unterscheidung zwischen Frauen- und Männerarbeit, aber auch Fürsorglichkeit und Kooperation als kollektive Werte)
  • Ungewissheitsvermeidung: 60 (Orientierung an Regeln und Vorgaben)
  • Langzeitorientierung: 30 ( Das Befürworten von Werten, die auf Vergangenheit und Gegenwart bezogen sind, insbesondere Respekt für Traditionen, Wahrung des ‚Gesichts‘ und Erfüllung sozialer Pflichten statt Tugenden zu pflegen, die auf zukünftigen Erfolg abzielen, insbesondere Sparsamkeit und Ausdauer.“

Eine ausführliche Darstellung aller kulturellen Dimensionen und die Beschreibung des arabischen Kulturraums finden sich in einem Beitrag von A. Najm (2015) mit dem Titel “Arab Culture Dimensions in the International and Arab Models“. Hier wird jedoch über die arabische Kultur insgesamt gesprochen und nicht spezifisch über Syrien.

Was ich damit sagen möchte: Es gibt kaum belastbare und zuverlässige Erkenntnisse über kulturelle Orientierungen oder allgemeine “Kulturstandards” in Syrien, die das individuelle Verhalten prägen können. Ich plädiere dafür, dass der inhaltliche Fokus von Workshops und Trainings zum Thema Kommunikation mit Menschen aus Syrien nicht schwerpunktmäßig auf den kaum vorhandenen Informationen über Syrien vor dem Krieg liegt, sondern eher auf der aktuellen Situation der Gruppe bzw. des Individuums. Ich plädiere für ausgewogene Inhalte, die nicht nur auf die Kultur der Syrer vor dem Krieg abzielen, sondern auch Aspekte der aktuellen Situation und der individuellen Biographie behandeln. Das ist entscheidend, um echte und evaluierbare Bildungsziele zu erreichen, und nicht nur Marketingziele oder “Meilensteine” bestimmter Projekte zu realisieren. Damit ist nicht gesagt, dass man die “Kultur als Erklärungskategorie” komplett aus den Lerninhalten entfernen muss, da dies zu kultureller Blindheit und Eskalation von Konflikten führen kann! Kulturelles Wissen ist wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Die Fokussierung allein auf kulturelle Unterschiede und die Ignoranz situativer, migrationsbezogener und persönlicher Komponenten führen oft zur Kulturalisierung von problematischen Situationen und zur Verfestigung von Stereotypen sowie “negativen” sozialen Repräsentationen.